#11 Peppilotti und Ayami
Die letzten Wochen waren extrem herausfordernd für die Waldbewohner. Ein Waldbrand zerstörte einen Großteil der Heimat von Peppilotti und ihren Freunden. Der Wald zeigte sich in einem neuen Kleid. Manche der einstigen Baumriesen waren nur noch als verkohltes Skelett erkennbar. Der Bach, das Herzstück des Waldes mit seinem frischen, klaren Wasser, war übersäht mit Asche und Geäst der umgestürzten Bäume. Das sonst in vielen Grüntönen erschienene Moos zeigte ebenfalls Spuren der Verwüstung. Zahlreiche Tiere verschwanden buchstäblich von Heute auf Morgen.
 
Peppilotti war untröstlich. Es plagten sie schwere Schuldgefühle. Sie, eine Vertreterin der Schuldlosigkeit und des immerwährenden Optimismus, stand einer ausweglosen Situation gegenüber. Immer wieder hörte man sie sagen: »Es ist meine Schuld. Ich trage die Verantwortung für meinen Wald. Hätte ich doch nur rechtzeitig die Zeichen erkannt!«
 
Keiner konnte die weise Eule trösten. Während einer Versammlung ergriff der Hirsch als Stellvertreter des Waldes das Wort: »Verehrte Peppilotti, meine lieben Freunde! So geht das nicht weiter! Ja, es ist furchtbar, was passiert ist. Und doch glaube ich an einen übergeordneten Plan. Und wer weiß, vielleicht wird eines Tages unser Wald eine Schönheit erlangen, die unsere kühnsten Vorstellungen übertreffen.«
Er machte eine theatralische Pause, schnaubte durch seinen Windfang, scharrte mit den Hufen und erklärte weiter.
 
»Peppilotti, es wird Zeit, dass du dir eine Auszeit nimmst. Xaver besitzt eine kleine Hütte in den Zillertaler Bergen. Dorthin wirst du dich zurückziehen, um neue Kräfte zu sammeln. Inzwischen werden wir mit Hilfe unserer Menschenfreunde versuchen den Wald aufzuforsten.«
Einen Protest Peppilottis erstickte der Hirsch im Keim, indem er einwarf: »Keine Widerrede, es ist beschlossene Sache. Du fliegst in die Berge. Es wird auch uns zugutekommen, denn du wirst neu gestärkt und mit frischen Ideen zurückkehren, dessen bin ich mir sicher!«
 
Über die Zillertaler Höhenstraße gelangte Peppilotti in die Jagdhütte Xavers und richtete sich ein. Anders als im Tal wehte hier oben auf beinahe 2.000 Höhenmeter ein frischer Wind. Peppilotti nahm vor der Hütte auf einer verblichenen Holzbank Platz und blinzelte in den Himmel. Dabei beobachtete sie zwei Adlerjungen auf ihren Jungfernflug. Ihr fröhliches Gekreische zauberte der angeschlagenen Eule ein Lächeln ins Gesicht.
 
»Wie berührend die Selbstverständlichkeit eines Adlerfluges. Zu gerne würde ich sie aus nächster Nähe beobachten dürfen«, dachte Peppilotti laut.
Sie nahm noch einen Schluck ihres Kräutertees, band sich ihre Wanderschuhe um, setzte sich ihren Tiroler Hut auf und ging los ins Unbekannte. Unterwegs erfreute sie sich an jungen Fichtentrieben, an vereinzelte Buschwindröschen und an den wohlriechenden Duft des Waldes. Schmerzhaft wurde sie an ihren eigenen erinnert.
 
Der Weg wurde immer steiler und unwegsamer. Peppilotti legte eine Rast ein und nahm Xavers Fernglas zur Hand. Mit Hilfe dessen gelang es ihr, die jungen Adler greifbar nahe zu sehen. Ein Glücksgefühl durchströmte die Eule, wie sie es schon länger nicht mehr erlebte.
 
»Das Nest muss wohl in der Nähe sein«, sagte sie sich. Geräusche drangen an ihr Ohr, doch niemand war zu sehen.
»De S…Bande, ieatz lossen’s mi aloinig, nur weil i nit mitfliegen mechat. Seit Anfong on haben’s mi lei sekkiert. S…Bande...«
 
Jetzt wurde Peppilotti neugierig. Woher kam diese Stimme? Sie ging weiter und sah auf einem höher gelegenen Felsen einen Jungadler, der wenig glücklich vor sich hin maulte.
»Ja, sag‘ einmal, warum schimpfst denn so? Und warum bist du ganz alleine in deinem Nest? Sind das deine Geschwister, die ich durch die Lüfte kreisen sah?«
 
Der kleine Racker richtete sich auf, starrte Peppilotti fassungslos an und antwortete: »Na, du hast mir gerade noch gefehlt! Eine Eule mit Wanderschuhen, Rucksack und Tiroler Hut! Der Tag ist nicht meiner…«, dabei schnäbelte er verächtlich und musterte die Eule von oben bis unten.
 
Peppilotti trat näher, stellte sich vor und erklärte ihren Aufzug. »Und wie darf ich dich nennen? Berufs Mauler, Dauernörgler oder hast du auch einen Namen?«
»Ayami«, zischte der junge Steinadler. »Ayami, klingt interessant. Klingt japanisch. Wie kommst du zu so einem außergewöhnlichen Namen?«, fragte Peppilotti zurück.
»Weiß nicht, den Oldies ist nichts Besseres eingefallen. Sie erklärten mir einmal: Ayami bedeutet schöne Farbe. Pff… Von wegen…«
 
»Ich merke, mit dir habe ich meine heutige Tageslektion zu lernen.«, entgegnete Peppilotti.
»Pff... Tageslektion! Was soll das schon wieder heißen? Bitte gnädigst, mich in Ruhe zu lassen! Du hast ja keine Ahnung, wie es mir geht!« Er drehte Peppilotti den Rücken und schmollte weiter.
Die weise Eule näherte sich vorsichtig und begann aus ihrer jüngsten Vergangenheit zu erzählen. Sie erzählte Ayami auch von ihren Reisen und den Menschen, denen sie bisher begegnen durfte. Dann kam der Moment, wo sich der Steinadler ein Herz fasste und zu erzählen begann.
 
»Ich wuchs in diesem Horst auf. Meine beiden Geschwister waren von jeher viel stärker als ich. Sie nahmen mir das Futter weg, buhlten um die Gunst der Eltern. Diese meinten wohl, dass es sich bei mir nicht lohnen würde, so schwach wie ich war. Ich bekam die Reste, die sie übrigließen…« »Wie Aschenputtel«, unterbrach Peppilotti.
»Sehr witzig! Jedenfalls war ich angewiesen darauf, das zu nehmen, was übrigblieb. Und als die Stunde des Jungfernflugs kam, war ich viel zu schwach um daran teilzunehmen. Und ehrlich gesagt, ich hatte null Bock darauf.«
 
»Warum?«, hackte Peppilotti nach. »Weil ich nicht todesmüde bin und mich von einem Felsen in die Tiefe stürzen werde, darum!«
»Interessantes Argument«, entgegnete die Eule. »Weißt du was deine Bestimmung ist, deine Aufgabe? Ein Adler, der nicht fliegt, verliert seine ihm gegebene Gabe. Er wird dahinvegetieren und seiner wahren Bestimmung nicht gerecht werden. Und er muss sich mit den Brotkrümeln, die ihm vereinzelt zufallen, zufrieden geben. Möchtest du das? Oder möchtest du deine Angst überwinden und spüren, wozu du fähig bist?«
 
Ayami wurde still. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle. »Nein«, brach er mit tränenerstickter Stimme hervor, »Nein, das möchte ich nicht. Würdest du mir dabei helfen, meine Bestimmung zu finden, liebe Peppilotti. Ich meine, du kannst ja auch fliegen, oder nicht?!«
 
Schmunzelnd schlang Peppilotti die Arme um Ayami und nickte. »Ich sage dir, wenn du dich traust, wirst du über mir fliegen. Du wirst die Welt mit anderen Augen wahrnehmen können. Du wirst dich grenzenlos frei fühlen. Du wirst dich im Jagen üben, um dir dein Futter selbst zu holen. Du wirst Luftsprünge machen wollen und singen und vielleicht, eines Tages, selbst eine Familie gründen wollen…«
 
Und so begann Ayamis Abenteuer. Der Jungvogel nahm all seinen Mut zusammen und tastete sich vorsichtig an den Felsenrand. Peppilotti lotse ihn bis zum nächsten Felsvorsprung. Von Mal zu Mal wurde er mutiger. Bereits am ersten Tag konnte er seine Flugfähigkeit soweit ausdehnen, dass er rund um das Horst seine Runden zog. Aufgeregt berichtete er Peppilotti immer wieder von seinen Entdeckungen. Auch kleine Rückschläge machten ihm nichts mehr aus, denn er wusste jetzt um seine Fähigkeiten.
Nach nur einer Woche war er soweit, dass er mit seinen Geschwistern auf gleicher Höhe fliegen konnte. Doch das wollte er nicht. Er wollte seine eigenen Kreise ziehen und damit seine eigenen Erfahrungen machen.
 
Eines Tages erzählte er Peppilotti aufgeregt: »Du, Peppilotti, du wirst nicht glauben, was ich heute erlebt habe. Ich flog so dahin, ließ mich treiben, so wie du mir angeraten hattest und plötzlich sehe ich ein hell gleisendes Licht vor mir und eine Stimme die sagte: »Endlich, Ayami, endlich bist du da. Wir dachten schon, du kommst nie bei uns vorbei… Unglaublich, nicht wahr, Peppilotti. Ich weiß, wer mit mir gesprochen hat, du auch?« Peppilotti nickte und eine Träne kullerte aus ihren wunderschönen grünen Augen.
 
Wann bist du bereit zu fliegen? Es bedarf nur eines Schrittes…
 
Bis zum nächsten Mal, deine Peppilotti
© Andrea Mayr, Mai, 2023
 
 
 
 
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