MiRa und das Gänseblümchen
Während einer ausgedehnten Wanderung setzte sich Mira für eine Rast an einem besonders schönen Platz an der Waldlichtung. Ihr Blick schweifte über die Bäume hinweg ins Tal. Von fern sah sie die Kirchturmspitze, die in den Himmel zu ragen schien. Sie öffnete ihren kleinen Rucksack, um ihre Thermoskanne mit dem duftenden Tee zu bergen sowie eine Dose mit Gemüsestücken und ein mit Butter beschmiertes Schnittlauchbrot. Genussvoll biss sie in dieses und fühlte sich sogleich gestärkt. Immer wieder fiel ihr Blick auf die vom Wind bewegten Grashalme. Sie stellte sich vor, während sie einen Schluck ihres Tees zu sich nahm, wie die Gräser miteinander tanzten.
 
Plötzlich hörte sie eine Stimme: »Mira, hier bin ich! Ich versuche schon die ganze Zeit deine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu erlangen, doch du willst mich nicht wahrnehmen!« Erstaunt blickte Mira um sich, konnte aber niemanden sehen. Kopfschüttelnd aß sie an ihrem Brot weiter, steckte sich abwechselnd die Gemüsestücke in den Mund und sah wieder hinunter zum Dorf.
 
»Mira, hier bin ich!«, unterbrach sie abermals diese Stimme, »hier, direkt neben dir, wieso siehst du mich nicht, wo ich mir doch die aller größte Mühe gebe, mich auf dich aufmerksam zu machen?«
Mira drehte sich auf die rechte Seite und da entdeckte sie ein Gänseblümchen. Eines ihrer Lieblingsblumen seit Kindheitstagen. Sofort tauchten Bilder dazu auf, wie sie mit einem Kranz aus Gänseblümchen im Haar lachend und tanzend die Wiese hinablief. Oftmals stürzte sie, der Hang war sehr steil, stand wieder auf und lachte vergnügt und hüpfte weiter. Ja, diese Blumen bedeuteten ihr schon immer sehr viel. Wobei sie nie sagen konnte, woran es lag. War es ihr zartes, liebliches Äußeres, war es die Tatsache, dass sie unverwüstlich schienen oder lag es etwa daran, dass sie so zahlreich vertreten waren und sie sich ihrer Anwesenheit immer sicher sein konnte?
 
Ihre Gedanken unterbrechend vernahm sie abermals die Stimme: »Oh ja, das war ein Riesenspaß damals! Sag‘, warum machst du es heute nicht mehr? Warum bist du so ernst geworden? Was hindert dich daran, dich wieder wie ein Kind zu fühlen? Viel zu sehr grübelst du über alles Mögliche nach und vergisst dabei auf das Wesentliche: das Leben!« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ja warum eigentlich? Was war geschehen, dass sie ihr kindliches Gemüt verloren hatte?
 
Zwischen den Grashalmen sah sie das Gänseblümchen, dass ihr zartes Köpfchen hin und her bewegte. Sie konnte sich nicht erwehren zu denken, welch eine Anstrengung dies für so ein zartes Pflänzchen bedeuten müsste. Zärtlich berührte Mira mit einem ihrer Finger dieses Gänseblümchen. Sofort war sie eingehüllt in diese unbeugsame Lebenskraft von damals. Eine unglaubliche Liebe durchströmte all ihre Zellen. Kleine Tränen der Berührung kullerten aus ihren Augenwinkeln.
 
»Ach, liebes Gänseblümchen, wie ich dich und deine Freunde vermisst habe! Weißt du noch damals, als ich euch besuchen wollte und ihr ward verschwunden. Von einem Tag auf den anderen einfach weg. Niedergemäht, sodass nur noch Grasstoppeln übrig blieben. Tagelang suchte ich nach euch, doch nirgends war nur eines von euch zu finden!», sprach sie Mira an.

»Ja, ich erinnere mich. Es war der Tag, an dem die Erwachsenen dir gesagt haben, dass du mit deinen Träumereien aufhören solltest, dass es Wichtigeres im Leben gäbe und auch dass man mit Blumen nicht sprechen könne. Niemals, unmöglich! Das war der Tag, wo du ernst wurdest, stimmt’s! Doch genau genommen waren wir niemals getrennt von dir. Wir folgten dir, wohin du auch immer gegangen warst. Selbst inmitten der Stadt erklärte sich unsere Familie bereit, dort zu wachsen, wo du wohntest. Wir alle gaben uns die größte Mühe – einige von uns schafften es sogar zwischen den Ritzen der Pflastersteine zu gedeihen. Nur um dich daran zu erinnern, dass wir da sind. Hast du das gewusst?«
 
Nachdenklich und still wurde Mira, als sie diese Worte tief in sich aufgenommen hatte. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr konnte sie den Worten des Gänseblümchens glauben. Tatsächlich begleiteten sie ihre Lieblingsblumen überall dort, wo sie sich gerade aufhielt. Und auch die Worte der Erwachsenen hatte sie im Ohr. Niemand konnte ihren kindlichen Schmerz damals verstehen und Mira glaubte jahrelang mit ihr sei etwas nicht in Ordnung. Nur durch das Verleugnen ihrer Fähigkeiten war es ihr möglich, sich in dem Leben der Erwachsenen zurechtzufinden.
 
Mira legte sich zum Gänseblümchen, um ihr ganz nahe zu sein. Jetzt konnte sie auch den Geist der Pflanze erkennen. Und das Licht, dass von ihr ausging. Verzaubert, wie damals als kleines Kind, sah sie dem Treiben der Blume zu bis ihre Augen schwer wurden und sie einschlief. Im Traum erschien ihr die Pflanzen-Deva des Gänseblümchens. Diese hatte eine wunderschöne, zarte Gestalt und ihre Stimme war sanftmütig. Die Deva blickte Mira tief in die Augen und sagte zu ihr:
 
»Deine Aufgabe wird es sein, die Menschen darüber aufzuklären, was du heute erlebt hast. Viele werden dir nicht glauben wollen, doch bleibe standhaft, irgendwann werden es alle verstehen. Werde nicht müde, achtsam zu sein. Nur so bist du ein Beispiel für Diejenigen, die den Zugang noch nicht wiedergefunden haben. Ja, du hast richtig gehört, wiedergefunden. Es gab bereits einmal eine Zeit, wo es selbstverständlich war, das Alle mit Allem in Kommunikation gestanden waren – die Zeit naht, es wird wieder so sein, doch anders als damals.«
 
Als Mira von dem Traum erwachte, fühlte sie sich leicht aber auch verunsichert. Das Gänseblümchen gab ihr den Auftrag, es zu pflücken, zu trocknen und an einem besonderen Platz aufzubewahren. Dort, wo sie es täglich sehen konnte, als Erinnerung an ihren Auftrag und als Erinnerung an diesen besonderen Tag. Bis heute liegt das getrocknete Gänseblümchen auf ihrem Altar und bis heute wird sie nicht müde den Menschen über ihre Liebe zu ihnen zu erzählen.
 
© Andrea Mayr (Urfassung, 2014, ergänzt Feber 2022)
 
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