Baba Yaga
Der Abend mit Jorgos steht im Zeichen der heute gehörten
Legenden. Eine angeregte Unterhaltung entsteht und nebenbei merkt sie an, dass
es diese alten, immer noch vorhandenen Energien sind, die dieser bezaubernden
Insel ihren Charakter geben. »Jorgos, mir kommt so vor, als hätte ich all die
Jahre zuvor, die ich hier zu Besuch war, in einem Schlafmodus verbracht. So
vieles, was ich erst jetzt sehe und erfahre. Auch die Tatsache, dass wir uns
erst in diesem Urlaub kennengelernt haben, lässt mich erstaunen.«
»Ja, liebste Greta, meine Perle! Diese Insel sorgt immer
wieder für Überraschungen! Das Leben läuft in Zyklen, nicht so, wie viele
annehmen, linear, also von A nach B. Das Leben will in Spiralen gelebt werden.
So viel, wie nur irgendwie möglich, sollte erfahren werden, damit das Göttliche
durch uns verwirklicht werden kann. Verstehst du, was ich damit sagen möchte,
Liebste?« Ja, sie versteht! Jeden Tag ein klein wenig mehr! Sie begreift, wie
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfließen, in einem Tanz der
unendlichen Möglichkeiten.
»Ich würde dieser Baba Yaga gerne ein Gastgeschenk
mitbringen, etwas, dass sie vielleicht nicht bei ihr in den Bergen vorfindet,
etwas, womit sie Freude haben könnte! Was aber schenkt man so einer Frau?«
Zärtlich nimmt er sie in den Arm, küsst sie auf die Stirn und flüstert ihr ins
Ohr: »Was habe ich nur für eine schöne, reine Perle aus dem Meer gefischt?!«
Am nächsten Tag hört sie von der Terrasse aus Aglaias alten
Fiat Punto mit Gehupe nahen. Das animiert die hier anwesenden Tiere
miteinzustimmen. So eine Vielfalt an Geräuschen, die da zu hören sind! Lächelnd
begibt sie sich zum Parkplatz, Juliane kommt auch dazu. Sie verabschiedet sich
von Jorgos und das nächste Abenteuer nimmt seinen Lauf…
Unterwegs unterweist Aglaia die beiden noch in bestimmte
Verhaltensregeln, um sich der Baba Yaga in Würde und Respekt zu nähern. »Bitte,
sprecht sie keinesfalls mit Baba Yaga an, das wäre äußerst unhöflich. Sie kann
schon mal ungemütlich werden, wenn sie meint, dass sie nicht respektiert wird!
Wärmstens empfehle ich euch, sie bei ihrem offiziellen Namen anzusprechen, der
lautet: Dona Savvina. Gleichzeitig, tätet ihr gut daran, ihr mit der
Namasté-Haltung gegenüber zu treten!«
Auf was für ein Abenteuer hat sie sich da nur eingelassen!
OK, Augen zu und durch! Die letzten zweieinhalb Kilometer des Weges müssen sie
zu Fuß gehen, da Aglaias alter Fiat diese mit Felsbrocken durchzogene
Schotterstraße nicht mehr bewältigen kann. Das Klima wird zunehmend kühler,
sodass Greta ihre Strickjacke hervorholt. Sie fühlt sich von den engen, mit
Bäumen und Bächen gesäumten, Wegen an ihre versteckten Lieblingsplätze ihrer
Heimat erinnert. Aglaia informiert sie darüber, dass sie zuerst alleine mit der
Baba Yaga Kontakt aufnimmt. Und dann ist es soweit, sie stehen vor dem kleinen
Steinhäuschen, dass eine andere Wirkung auf sie hat, als in ihrer Vorstellung.
Mit viel Liebe hat diese Baba Yaga die kleine Behausung
geschmückt. Jedes Fenster ist umrahmt von blitzblauen Fensterläden, geschmückt
mit Blumen, die farbenfroh herabhängen. Sofort ins Auge gestochen ist ihr die
kleine Kapelle, ebenfalls liebevoll geschmückt. Neben dieser sprudelt eine
Quelle heraus. Ein kleiner Gemüsegarten mit Kräutern, der bekannte Duft des
wilden Thymians steigt ihr sofort in die Nase, und allerlei buntes Gemüse. »Wie
eine Komposition eines Künstlers!«, denkt sich Greta bei diesem Anblick. Ein
paar Hühner in einem eingezäunten Areal gackern fröhlich umher. Oberhalb des
Hauses, auf einer Anhöhe, sieht sie einen Esel frei umhergehen. »Jemand, der sein Anwesen derart liebevoll betreut, kann
doch kein unguter Mensch sein!«, ist sie sich sicher.
Inzwischen ist Aglaia
bereits bei der Alten Weisen und sie hört die beiden immer wieder laut
auflachen. Mit freundlicher Geste bittet die Baba Yaga Juliane und Greta
einzutreten. Aglaia fungiert als Dolmetscherin, da sie, die Alte Weise, kein
Wort Deutsch spricht. Wie Aglaia geraten hat, sprechen sie die Frauen mit Dona
Savvina an, mit gleichzeitiger Verbeugung in der Namasté-Haltung.
Die Alte lacht so laut und kräftig, wie die Urmutter
vielleicht lachen würde, umarmt sie und bedeutet ihnen Platz zu nehmen. »Dieser
Gag ist dir gelungen, liebe Aglaia! Schau sie dir an, die zwei, beinahe wie
verängstigte Häschen sitzen sie hier in meiner Stube und meinen wohl, ich
fresse sie gleich!« Zu den Frauen gewendet sagt sie mit verschwörerischer
Miene: »Das ist ein altes Spiel von uns! Aglaia erzählt den Frauen, die das
erste Mal hierherkommen, immer etwas von Dona Savvina, Baba Yaga und von einer
gebührenden, ehrfürchtigen Haltung! Bis jetzt ist noch jede darauf
hereingefallen, wir sind eine eingeschworene Gemeinschaft, ein Dream Team! Ihr
müsstet euch einmal sehen, eure Augen, die scheinen bald herauszufallen!
Zerkugeln könnte ich mich, wenn ich die Menschen, die zu mir kommen, so
betrachte! Was die alles glauben wollen, heutzutage! Ihr könnt mich nennen, wie
ihr wollt, Savvina, ohne Donna, Baba Yaga oder Alte und bitte, ohne Verbeugung,
die brauche ich nun wirklich nicht!«
Der Bann ist gebrochen, ein lautes Aufatmen der beiden
Frauen und Aglaia den erhobenen Zeigefinger zeigend, stimmen sie ein in ein
Gelächter, dass man vermutlich bis ins Dorf hören kann! Greta überreicht ihr
die Kiste mit den Leckereien und umarmt diese warmherzige, humorvolle Frau. So
beginnt ihre erste Begegnung mit dieser sagenumwobenen Frau, die, so spürt sie
es gleich, ihr Leben nachhaltig verändern wird. Vieles kann Baba Yaga noch zu
dem Mythos der Insel beitragen. Staunend und schmunzelnd sitzen sie vor ihr und
lauschen ihren Worten.
»Vorerst bedanke ich mich bei euch, dass ihr unseren Spaß
mit Humor trägt! Humor ist einer der wichtigsten Dinge im Leben. Es verhindert,
verbittert durchs Leben zu gehen. Eure Generation ist dazu aufgerufen, wieder
mehr Leichtigkeit ins Leben zu lassen. Es wird eure Aufgabe sein, dass
Weibliche mit dem Männlichen zu verbinden, sodass ihr euch auf Augenhöhe
begegnen könnt. So könnt ihr voneinander profitieren, anstatt euch gegenseitig
übertrumpfen zu wollen. Kein Geschlecht ist besser oder schlechter, jeder hat
seinen Platz im großen Plan der Schöpfung. Es gibt ein einfaches Rezept für die
zwischenmenschliche Beziehung: tue nichts, was dich selbst verletzen würde –
tue alles, damit sich dein Gegenüber wohlfühlt!
Das gilt im Übrigen auch im Umgang mit den Tieren, Pflanzen,
Bäumen, Steinen, mit dem Wasser. Ihr müsst endlich erkennen, dass sie eure
wahre Natur sind, dass ihr ohne sie nicht überleben könnt! Ihr habt so
unendlich viele Möglichkeiten in der heutigen modernen Welt. Vernetzt euch,
bildet Frauenkreise, respektiert die Natur und ihre Geschöpfe, segnet alles und
jeden und ihr werdet wahre Wunder erleben können! Wenn es euch recht schwer ums
Herz wird, lasst euren Gefühlen freien Lauf, findet Trost bei euren Mitmenschen
oder in der Natur, haltet keine Emotionen zurück, denn das macht krank! Lacht,
so viel ihr nur könnt, mindestens einmal am Tag, solltet ihr vom ganzen Herzen
lachen, dann bleibt ihr gesund. Ernährt euch von den Dingen, die euch die Erde
schenkt, zerkocht sie nicht, seid bescheiden und offenen Herzens, dann werden
die Menschen euch lieben! Seid hilfsbereit und seit vor allem mitfühlend, mit
euch, mit euren Mitmenschen! Viel zu oft erlebe ich, wie ihr euch selbst
verurteilt, kleinmacht, viel zu sehr macht ihr euch Sorgen, wo kein Grund vorhanden
ist.
Auch ich gehe mit der Zeit, was mir sinnvoll erscheint, lade
ich ein, alles andere lasse ich weg. Vor Jahrzehnten bin ich aus diesem
Konsumwahn schon ausgestiegen. Hier oben in den Bergen, in der
Abgeschiedenheit, wenn ich den Sternenhimmel betrachte, wird mir jedes Mal
bewusst, wie klein wir sind und doch ein Teil von diesem großen Ganzen. Lasst
all das Bewerten, das Vergleichen untereinander, lasst die Möglichkeit zu:
sowohl-als-auch zu sein! Früher, das sage ich euch, war ich eine ‚wilde Frau‘,
eine Revoluzzerin, habe mir von niemanden etwas vorschreiben lassen.
In den letzten Jahren wurde ich ruhiger, wozu sich mit
dreiundneunzig Jahren noch aufregen? Ich kann euch nur den Rat geben: Lebt euer
Leben, mit allem, was ist, mit jeder Zelle eures Seins, mit all eurer Hingabe
ohne Angst. Lebt euer Geschenk, als Frau geboren zu sein! Wer, wenn nicht wir,
haben die Kraft, Dinge zu verändern und Leben zu schenken! Ihr müsst nicht
zwingend ein Kind auf die Welt bringen, um Leben zu schenken. Ihr könnt es auch
in euren Lebensprojekten verwirklichen!
Ihr tragt den heiligen Tempel in euch, der euch speist, euch
motiviert, euch als Leuchtturm dient, als Navigator für alle Zeiten. Lebt die
Turmpräsenz, fest verwurzelt in die Erde, geöffnet dem Kosmos, aus der Mitte,
dem Herzen agierend. Seid behutsam mit euren Energien, mit euren Worten und
Taten. Befreit euch von der patriarchalen Gesellschaft und findet euren Weg in
der matriachalen Welt auf eine sanfte Art und Weise, hin zu einem
feminin-magischen Frauenbild, hin zu der befreiten Frau!«
Gebannt lauschen sie dieser warmherzigen, weisen Alten. Wenn
sie spricht, sind ihre Augen voller Lebendigkeit, ein Funkeln, wie es selten
bei Menschen in diesem fortgeschrittenen Alter ist. Auch ihr Körper untermauert
ihre Worte durch seine geschmeidigen Bewegungen. Generell stellt Greta fest,
dass hier eine Frau vor ihr sitzt, die keines dieser modernen
New-Age-Richtungen benötigt, um ganz Frau zu sein, um körperlich und geistig
fit zu sein!
»Baba Yaga, ich bleibe bei dieser Anrede, sie passt zu dir!
Sag mir bitte, ist das, was du uns erzählt hast, das Geheimnis, warum du in
deinem Alter noch so fit bist? Warst du jemals verheiratet? Wie kommt es, dass
du mit dem modernsten Mobiltelefon ausgestattet bist? Gibt es hier überhaupt
eine Funkverbindung?« Lächelnd sieht sie sie an, legt ihre alten,
verschrumpelten Hände auf die ihre:
»Ja, Greta, du bist eine, die viel fragt, das kenne ich aus
meiner Zeit in jungen Jahren! Ich wusste bereits, als du über die Schwelle
getreten bist, da ist eine, die will alles und sofort wissen! Nun, einen Rat,
wenn du erlaubst, möchte ich dir auf deinem weiteren Lebensweg noch mitgeben:
Zu viele Fragen können deinen Geist belasten, denn zu viele Fragen lassen
keinen Platz, um Antworten aufzunehmen! Und nicht alle Fragen können aus
menschlicher Sicht beantwortet werden. Sie kommen zu dir, wenn die Zeit reif
ist, nicht früher und nicht später, wenn du bereit bist dafür, dann kommen sie.
Dein Herz Greta, dein Herz, ist dir Wegweiser, Kompass für all deine Fragen!
Sieh dir den Kräuterbund an, den du mir mitgebracht hast,
sieh ihn dir genau an! Nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen, was siehst
du? Welche Antworten auf deine Fragen kannst du hören? Wie ich höre, wohnst du
bei Jorgos? Ein toller Mann nicht wahr! Ihr beide habt eine ähnliche
Seelenessenz, ihr seid über eure Herzen verbunden, vergiss das nie. Lass dir
Zeit mit den Antworten, lasse sie wirken, lasse sie immer wieder vor deinem
inneren Auge erscheinen und du wirst sie finden, DEINE Antworten. Um das geht
es, um deine, um eure Antworten, um eure Wahrheiten. Sie sind nie im Außen zu
finden, manchmal ist die Antwort sehr leise, nur ein Flüstern. Da braucht es
die absolute Stille, damit du sie auch wahrnehmen kannst. Manchmal kommt der
Zweifler und du wirst dein Herz immer und immer wieder befragen müssen. Je mehr
ihr mit euch verbunden seid, umso mehr werden alle Antworten zu euch kommen.
Zu deiner Frage, ob ich jemals verheiratet war? Ja, ich war,
vor gefühlt Hunderten von Jahren. Ich war damals noch sehr unreif, ließ mich
manipulieren und als ich erkannte, dass ich mich immer mehr und mehr verlor,
zog ich einen Schlussstrich. Es war nicht einfach, doch für mich war es
notwendig. Zum Abschluss dieser langen Rede gebe ich euch noch etwas mit auf
den Weg: Es geht im Leben nicht um eine Abrechnung, wer hat wie viel Leid
erfahren, wer hat ein vermeintlich leichteres Leben, wer ist vom Schicksal
verwöhnt, wer nicht – es geht um Erfahrungen. Seid euch bewusst, dass ihr euch
diese Erfahrungen selbst gewählt habt, bevor ihr inkarniert seid – mit diesem
Wissen, wird euch manch schmerzhafte Lebensbegegnung leichter fallen. Und für
die ach so neugierige Greta habe ich noch eine Erklärung zu meinem Namen:
Savvina bedeutet, die am Samstag Geborene!«
Tief berührt von der heiligen Rede der Baba Yaga sitzen die
Frauen still um den Tisch herum. Man hätte in der Stille eine Stecknadel fallen
hören, so andächtig hallen die Worte der Alten Weisen noch nach! Baba Yaga holt
einen Stapel Karten hervor, lässt jede der Frauen eine ziehen, sieht jeder, wie
ihr scheint, tief in ihr Herz und richtet noch folgende Worte an die beiden:
»Seht zu, dass eure Elemente sich ausgewogen verhalten. Jeder trägt von Natur
aus ein Element stärker in sich, als das andere.
Juliane, du besitzt sehr viel Feuer. Für dich ist es gut,
dass du dir das Element Wasser immer bewusst dazu nimmst. Feuer ist sehr gut,
Feuer macht dich lebendig, Feuer ist Fülle, wie an heißen Sommertagen, doch zu
viel an Feuer ist gefährlich! Es kann zu Verbrennungen führen, schlimmstenfalls
dazu, dass nur noch Schutt und Asche übrigbleibt. Bitte denke daran, wenn das
Feuer-Element über dich kommt!
Greta, du hast zu wenig Feuer. Für dich wiederum ist es
sinnvoll, dich mit Feuer auseinanderzusetzen. Überlege dir, wie du Feuer in
dein Leben einladen kannst, in Form von Kleidung, Essen, Kräutern, Blüten. Auch
eine heiße Liebe ist Feuer! Jetzt darf jeder von euch eine Karte ziehen, die
ihr behalten könnt. Es ist ein Geschenk von mir an euch, die ihr mir so
aufmerksam zugehört und meine Worte in euer Herz aufgenommen habt!«
Greta zieht die »Höhlenkarte«, auf dieser sieht sie Symbole
und gleißendes Licht. Juliane zieht die »Karte der Bucht«, eine mit ebenfalls
verschiedenen Symbolen versehene Karte, mit Delfinen und eine von massiven
Steinwänden begrenzte Bucht am Meer. Zum Abschluss umarmt sie Baba Yaga,
wünscht ihnen alles Gute und segnet sie. Ergriffen von der Liebe dieser Frau,
von ihrer einzigartigen Energie treten sie schweigend den Rückweg zu Aglaias
Auto an. Auch während der Fahrt sind die Frauen außergewöhnlich schweigsam,
jede hängt ihren eigenen Gedanken nach, jede ist beseelt von den Worten der
Alten Weisen!
© Andrea Mayr
aus dem Roman: Greta und die feminin-magische Insel