#05 Peppilotti in Hamburg, Teil 2
Auf einer großen Schautafel las sie, dass es eine Außen- und eine Innenalster gibt. Sie schlenderte entlang, stand bereitwillig für Fotoaufnahmen zur Verfügung und gelangte schließlich zu einem Schwanenpaar. Edel gleiteten diese grazilen Geschöpfe ans Ufer und beäugten neugierig Peppilotti. »Moin, Moin. Von welchem Planeten kommst du? So etwas wie dich haben wir noch nie gesehen! Dein Tiroler Hut lässt darauf schließen, dass du aus den Alpen kommen musst. Erzähle, uns hat die Neugierde gepackt.«
 
Peppilotti stellte sich dem Schwanenpaar vor, erzählte von ihren Reisen, von ihren Waldbewohnern, von dem bevorstehenden Fest und fragte so nebenbei, welcher Platz eine schöne Aussicht auf den Hafen haben könnte. Die Schwäne schüttelten ihre grazilen Hälse, blickten sie misstrauisch an und erwogen schlussendlich doch mit dieser ungewöhnlichen Eule ihre Geheimtipps zu teilen. »Flieg zu dem Altonaer Balkon. Von dort genießt man eine herrliche Aussicht auf den weitläufigen Hafen. Auch die gegenüberliegende Seite, dort, wo sich der Containerhafen befindet, lässt sich von diesem Platz sehr gut einsehen. Du könntest dir dort ein kleines Picknick gönnen und die wunderschöne Parkanlage mit altem Baumbestand genießen. Wer weiß, vielleicht triffst du auf einen deiner Verwandten?«
Peppilotti zog ihren Hut, bedankte sich bei dem Schwanenpaar und flog zum Altonaer Balkon.
 
Schnell wurde sie fündig. Sie flog auf eine Brüstung und genoss den unglaublichen Ausblick auf den Hafen und das geschäftige Treiben. Auf einer Bank sah sie eine ältere Dame sitzen, die den Ausblick ebenfalls zu genießen wusste. Leise summte sie eine Melodie, die Peppilotti irgendwie bekannt vorkam. Vorsichtig näherte sie sich dieser Dame, zückte ihren Hut, verbeugte sich und stellte sich vor.
»Dat glööv ik nu nich! Droom ik, waak ik? En Uul, de snackt. Mit Tiroler Hut, Rucksack un Wanderschohen. Sünn dat etwa Vörteken vun Geisteskrankheit? Kann en mi mal kort twieken?«
»Nur die Ruhe, verehrte Dame«, sprach Peppilotti sie an, »weder träumst du, noch hast du irgendwelche Vorzeichen einer Geisteskrankheit. Ich bin wahrhaftig eine Eule so wie du sie siehst. Ich heiße Peppilotti und komme aus dem Tiroler Land. Wie darf ich dich nennen? Möchtest du mit mir gemeinsam picknicken? Es wäre mir eine Ehre!«
 
Erleichtert seufzte die Dame auf, bekreuzigte sich und sagte: »Jesus Maria, habe ich mich erschreckt. Ich heiße Smilla und bin schon über 80 Jahre. Ich komme jeden Tag hierher. Bei Wind und Wetter gehe ich eine große Runde über den Elbstrand und wieder zurück.« Ihre blaugeäderten Hände zeigten auf einen Abschnitt unterhalb der Brüstung, wo sich hunderte Menschen zu tummeln schienen. Während sie Peppilotti ein kleines Stück ihres saftigen Apfels anbot, Peppilotti ihrerseits die Hälfte ihres Brotes gab, unterhielten sie sich weiter.
 
»Ich bemühe mich, jeden Tag voller Freude zu leben. Das war nicht immer so. Als mein geliebter Mann starb und unsere einzige Tochter ihrem Drogenkonsum erlegen war, hatte ich so eine Wut auf die ganze Welt. Nichts und Niemand konnte mich aufheitern. Zu sehr hatte der Schmerz mein Herz verschlossen. Eines Tages ging ich missmutig, wie jeden Tag, außer Haus. Ich schimpfte vor mich hin, konnte die schöne Gegend gar nicht wahrnehmen. Ich war gefangen in meinem eigenen Gefängnis. Verstehst du, was ich meine?«
Peppilotti nickte. »Kurz und gut, das war der Tag, der mein Leben veränderte.«
 
»Wie kam es?«, fragte die weise Eule. Nach einer kurzen Pause antwortete Smilla: »Also ich ging so dahin, wie gesagt, schimpfend und griesgrämig. Auf einmal blickten mich zwei hellblaue Augen an, so klar wie ein Gebirgssee. Ein Knabe, vielleicht zehn Jahre alt, mit wallendem, blonden Haar. Er sah mich an und sagte eher beiläufig: »Gell, manchmal ist das Leben echt zum Kotzen. Mir geht es auch immer so, wenn ich wieder einmal keine Freunde finde, die mit mir spielen wollen! Irgendwie drang dieser Bub in mein Herz ein. Ehe ich noch wusste, wie mir geschah, hatte er bereits meine Hand genommen, zog mich hin zu einen Baum. Weißt du Peppilotti, es gibt nicht viele Momente in meinem Leben, die mich tief berührten, aber das war so einer. Die Sonne schien über die Baumkrone und zauberte diesem Baum etwas Magisches. Mit jedem Windhauch bewegten sich die Äste und Zweige des Riesen und auf dem Stamm war ein lachendes Gesicht zu erkennen. Lach‘ nicht, so war es. Eine Gänsehaut jagte die andere und ich wusste mit einem Schlag: Ich bin nie alleine. Ich war nie alleine und werde es auch nie sein. Und ich wusste in dieser Millisekunde, mich trifft keine Schuld – welch eine Erlösung! Der Bub heißt übrigens Tami und ich kann dir aus tiefstem Herzen empfehlen, ihn kennenzulernen. Er ist fast täglich am Elbstrand zu finden, in der Nähe der ‚Strandperle‘. Dort lässt es sich bei einem Kaffee oder einer leckeren Mahlzeit gemütlich verweilen. Ich bin Tami bis heute dankbar, dass er mich aus meinem Schmerz herausholte. Ein außergewöhnlicher junger Mann. Wir treffen uns öfters. Auch seine Mama Michaela, ist eine außergewöhnliche, liebenswerte Frau.«
 
Peppilotti nippte an ihrem Wasser und hörte aufmerksam zu. Ja, das könnte in der Tat eine spannende Begegnung werden. Sie bedankte sich bei Smilla für ihre Offenheit und für den Tipp, Tami kennenzulernen. Sie ließ sie in ihr Reisetagebuch schreiben, überreichte ihr eine Feder, knipste noch ein Foto von ihnen beiden und lud auch sie zu dem großen Fest zur Wintersonnenwende ein.
 
Über mehrere Stufen gelangte Peppilotti direkt zum Fischmarkt, der um diese Zeit ruhig war. Das wilde Treiben fand stets in den frühen Morgenstunden statt. Dann wurde gefeilscht und laut gestikuliert. Die Fische fanden ihre Abnehmer und das Tagesgeschehen nahm seinen Lauf. Peppilotti zog immer wieder die frische Seeluft ein. Entlang des Elbstrandes war wirklich viel los. Immer wieder musste sie für Fotoaufnahmen zur Verfügung stehen. Noch nie hatte Peppilotti so viele Schiffe auf einmal gesehen. Jetzt konnte sie auch die unzähligen Container in ihren bunten Farben genau betrachten. Ausflugsboote versperrten ihr immer wieder den Sichtkontakt. Was für ein quirliges Leben. Des Öfteren stand sie offenen Mundes da und kam aus dem Staunen nicht heraus. Was für eine tolle Stadt!
 
Von weitem sah sie ein einen Knaben, der mit seinem Fußball immer wieder an die Mauer eines Hauses spielte. Sein blondes, wallendes Haar wehte im Wind. Das musste Tami sein! Vorsichtig näherte sie sich ihm, stoppte mit einem Flügel den Ball und sprach ihn an: »Wieso spielst du alleine gegen eine Hausmauer, findest du keine Spielkameraden mit denen du spielen willst? Oder ist es vielleicht eine besondere Art des Fußballs, von dem ich noch nie erfahren habe? Du musst Tami sein, ich habe schon vieles über dich gehört!«
 
Mit weit aufgerissen Augen sah er Peppilotti von der Seite an. Dabei zeigten seine hellblauen Augen einen Sonnenkranz um seine Iris. Er schüttelte den Kopf und antwortete: »Soso, von mir hast du gehört! Wie kommt es, dass ich eine Eule verstehen kann?«
»Weil du ein feines Gespür hast für alles, was dich umgibt. Ich heiße Peppilotti und komme aus dem Tiroler Land. Auf dem Weg hierher lernte ich Smilla kennen und sie meinte, du bist ein außergewöhnlicher junger Mann, den es lohnt, kennenzulernen. Magst du mir ein bisschen über dich erzählen, lieber Tami?«
 
Ein Lächeln huschte über sein hübsches Gesicht. »Smilla, oh ja, sie ist eine gute Freundin von mir. Beinahe wie eine Großmutter. Hat sie dir von unserer ersten Begegnung erzählt? Ich sage dir, die Menschen werden zunehmend blinder für all das Schöne, was sie umgibt!«
»Ja, sie erzählte mir davon«, antwortete Peppilotti, »sie erzählte mir auch, dass du Musik liebst und sogar am Klavier spielst. Das möchte ich auch können! Stelle dir vor, meine Flügel huschen über die Tastatur und spielen Mozart…«
 
Da lachte Tami ein glockenreines Lachen eines glücklichen Kindes und sagte: »Na, du bist ja eine lustige Eule. Eine Eule mit Humor. Das gefällt mir. Manchmal fühle ich mich unter Gleichaltrigen nicht zugehörig, das macht mich traurig. Und bin umso glücklicher, wenn ich dann Freunde gefunden habe. Wie zum Beispiel in meinem Fußballverein, da fühle ich mich rundum wohl. Vorhin habe ich geübt. Du musst wissen, wir haben in ein paar Wochen ein Freundschaftsspiel mit einem anderen Verein. So nutze ich jede Gelegenheit zu üben…«
 
»Ist ja interessant! Glaubst du eine Eule könnte auch Fußball spielen lernen? Vielleicht nicht unbedingt als Torhüter, oder doch, was meinst du?« Vor lauter Lachen kamen Tami die Tränen. Er ließ sich auf den sandigen Boden fallen und hielt sich den Bauch, indem er immer wieder rief: »Eine Eule als Fußballstar! Ha-ha-ha! Stelle dir vor, ein Fernsehteam würde so ein Spiel übertragen! Ha-ha-ha! Bitte Peppilotti, aufhören, ich habe bereits Bauschmerzen vor Lachen! Die Vorstellung alleine, eine klavier- und fußballspielende Eule, welch eine Komik!«
 
Durch das schallende Gelächter neugierig geworden, näherte sich eine Frau den beiden. »So ausgelassen und glücklich habe ich Tami schon länger nicht mehr erlebt! Darf ich fragen, was der Grund dieser Heiterkeit ist?« Tami erzählte seiner Mama Michaela diese Episode und auch sie musste herzhaft lachen. Sie erzählte Peppilotti auch über Tamis Seelenbild, ein weißer Wolf, über ihre tiefe Verbindung zueinander und über ihr tägliches Ritual, dass sie täglich gemeinsam vollziehen. Über seine Höhen und Tiefen des Tages zu sprechen.
 
Auch ohne Worte spürte Peppilotti die tiefe Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn. Sie legte einen Flügel über Tamis Schulter und sagte zu ihm: »Das nächste Mal, wenn dich jemand verletzt, dann sage dir folgende Worte: Ich weiß, du hast es aus Liebe getan, danke! Du wirst staunen, was es für Auswirkungen hat, lieber Tami! Sei dir bewusst, dass du die Ausdehnung Gottes bist. Auch wenn du es noch nicht glauben kannst, so werden diese Worte Wunder in dein Leben bringen!«
 
Tief bewegt von Peppilottis Worten fragte Tami, ob die Eule schon einmal in einem Theater gewesen sei. Daraufhin erzählte Peppilotti von den Bregenzer Festspielen und wie gerne sie in einem Hamburger Theater sein würde. »Das trifft sich gut«, antwortete Tami aufgeregt, »heute Abend sehen wir uns das Musical ‚König der Löwen‘ an, möchtest du mitkommen? Mit der Fähre kommen wir bequem von den Landungsbrücken zur anderen Elbseite ins Stage Theater. Bitte, bitte, sag ja, Peppilotti! Du wirst es nicht bereuen. Dieses Musical entführt dich mit bezaubernden afrikanischen Klängen in die Serengeti Afrikas.«
 
Und so ergab es sich, dass Peppilotti mit Tami und Michaela in einem Theater in Hamburg saß. Wie gut, dass sie ihre schwarze Stola und ihre Perlenkette eingepackt hatte! Es war ein unvergesslicher Abend und die eine oder andere Träne konnte sich Peppilotti nicht verkneifen, so berührt war sie von dieser Aufführung. Viele Stunden später sang sie noch das Lied »Circle of Life«, dass sie unbedingt ihren Waldbewohnern vortragen musste.

Der Abschied von Tami und Michaela fiel ihr schwer, so sehr genoss sie deren außergewöhnliche Energien. Peppilotti übergab Tami ihren Polster, den ihr die Waldbewohner geschenkt hatten, mit der Gewissheit, diese würden bestimmt Verständnis für die Weitergabe ihres Geschenkes haben. Sie sprach ihre Einladung für das bevorstehende Fest aus, ließ sie in ihr Reisetagebuch schreiben, hinterließ ihnen noch eine Feder und machte sich auf den Weg zum Bahnhof, um ihre Rückreise anzutreten.
 
Im Zug traf sie Peter wieder und erzählte ihm von ihrem Abenteuer in Hamburg. Während sie schlief, träumte sie von Tami, den Löwen, von der Serengeti und von den Wundern des Lebens. In Innsbruck erwartete sie bereits Taubsi und Täubchen. Gemeinsam flogen sie in ihr Waldstück. Dort schilderte Peppilotti ihre Erlebnisse bis in die späten Abendstunden, schwärmte von dem Musical, präsentierte ihre Fotos und fragte sich insgeheim, wie sie all ihre neu gewonnen Freunde in der Hütte unterbringen wird können…
 
Bis zum nächsten Mal, deine Peppilotti
© Andrea Mayr
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