Die ungleichen Schwestern - ein Märchen

Es war einmal ein Mädchen, das wuchs in einer Großstadt auf. Ihre Eltern waren sehr streng mit ihr, oft fühlte sie sich alleine. Mit ihren Cousinen und Cousins, die in einem ähnlichen Alter wie sie waren, konnte sie sich ihrem kindlichen Spiel hingeben. Doch fühlte sie sich stets als Außenseiterin, als nicht dazugehörig. Insgeheim beneidete sie diese immer ein wenig, da sie von ihren Eltern als ihrer selbst geliebt wurden. »Ach, wie gerne würde ich ein Geschwisterchen an meiner Seite haben wollen, um das Leben leichter zu ertragen!«, dachte sie sie sich öfters. Wann immer es ging, zog es sie in den Wald, denn hier, mitten unter den Naturwesen, fühlte sie sich geborgen und beschützt.
 
Die Jahre zogen dahin, aus dem Mädchen wurde eine junge Frau. Zu ihrem 16. Geburtstag, beinahe auf den Tag genau, erfüllte sich ihr Wunsch. Ein Mädchen wurde in diese Familie geboren. Vom ersten Augenblick liebte sie diese Schwester, die sie wie ihr eigenes Kind betrachtete. Obwohl sie verschiedene Väter hatten, war es für sie selbstverständlich, sie als ihre Blutsverwandte zu betrachten.
 
Voller Stolz schob sie den Kinderwagen durch Parkanlagen und durch die Innenstadt und erklärte jedem der sie ansprach, über ihre verwandtschaftliche Beziehung auf. Sie wurde nicht müde, der Kleinen ausgedachte Geschichten zu erzählen. Wenn Nana, so der Name der Älteren, sich mit der kleinen Mel am Boden wälzte, ein fröhliches Glucksen aus dem Mund der Kleinen zu hören war, spürte sie jedes Mal, wie ihr Herz weiter wurde. Das Nesthäkchen wurde von allen Familienmitgliedern verwöhnt und wuchs als kleine Prinzessin auf. Wenn sie zornig war, schmiss sie sich auf den Boden und stampfte und schrie bis sie ihr Ziel erreichte. Kopfschüttelnd betrachtete Nana dieses Schauspiel – nie hätte sie sich auch nur ansatzweise derartige Ausbrüche erlaubt. Zu sehr waren die unerwarteten Gewaltausbrüche ihrer Mutter präsent, immer musste sie auf der Hut sein.
 
Als Mel vier Jahr alt wurde, verstarb die gemeinsame Mutter. Von einem Tag auf den anderen änderte sich ihrer beiden Leben. Mels Vater wollte nicht mehr, dass sich die Schwestern weiterhin sehen sollten und trennte die beiden auf äußerst unsanfte Weise. Keiner der beiden konnte verstehen, warum sie sich von nun an nicht mehr sehen sollten. Die Schreie der kleinen Mel verfolgten Nana jahrelang bis in ihre Träume. Jeglicher Versuch, doch noch an ihre Schwester heranzukommen, wurde im Keim erstickt.
 
Eines Tages beschloss Nana aus ihrer Heimat fortzugehen, um all den Schmerz hinter sich zu lassen. Sie gab ihre kleine Wohnung und ihren liebgewonnenen Job auf, packte ihre Habseligkeiten und zog weiter. Sie kam in eine Stadt, die von Bergen umsäumt, deren Menschen einen einzigartigen Dialekt sprachen. Eigentlich wollte sie hier nur eine kurze Station einlegen, um Freunde zu besuchen. Doch schon nach wenigen Tagen entschied sie sich, länger zu bleiben. Sie fand eine Anstellung in einem Hotel, unweit der Hauptstadt mit weitem ungehinderten Blick auf die Berge. Sie war von dieser Energie beseelt und wusste instinktiv, dass diese bezaubernde Landschaft nach und nach ihr Herz heilen könnte.
 
 
Immer mehr tauchte sie in diese Landschaft ein, fand mit der Zeit ihre persönlichen Kraftplätze. Kein Tag verging, an dem sie nicht an Mel gedacht hatte. Immer wieder fragte sie sich: „Was machst du gerade? Geht es dir gut? Weißt du noch, wer ich bin?“ Die Jahre zogen ins Land, Nana lernte ihren Mann kennen und gründete selbst eine Familie. Doch auch in ihrer neuen Heimat schlug das Schicksal mit aller Mächtigkeit zu. Ein Mädchen, dass ihr geschenkt wurde, verstarb kurz nach der Geburt. Tiefe seelische Schmerzen, die sie nicht mehr fühlen wollte, ertränkte sie in Arbeit. Wie eine Besessene arbeitete sie Tag und Nacht, um nur nicht diese tiefen Schmerzen fühlen zu müssen.
 
Auch die Natur konnte sie nicht mehr spüren. Es war ihr, als ob alles Leben in ihr abgestorben wäre. Sie wurde sehr krank, in ihrem Körper wucherten Tumore, die sie noch lange Zeit beschäftigten. Nach jeder Operation wuchsen neue heran. Eines Tages erhielt sie einen Brief von Mel, inzwischen selbst als junge Frau herangereift. Überglücklich, jetzt endlich ihre vermisste Schwester in die Arme zu schließen, vereinbarten sie das erste Treffen nach so langen Jahren.
Es war, als ob die Zeit stehen geblieben wäre, als ob sie sich erst gestern getrennt hätten. Etwas an Mels Art fiel Nana direkt auf. Anfangs nur eine vage Vorahnung, noch nicht greifbar. Sie vermutete, dass Mel süchtig war. Zu sehr kannte Nana die Zeichen einer Sucht, um sie nicht als Tatsache sehen zu können.
Bei jedem Gespräch wurden die Lügen offensichtlicher, den dieses Suchtverhalten hervorbrachte. Und trotzdem vertraute sie Mels Geschichten viel länger, als es ihr guttat.
 
In dieser Phase ihres Lebens spürte sie eines Tages neues Leben in sich heranwachsen. Ihre Ängste waren so groß, dass es sie beinahe um ihren Verstand gebracht hätte. Auch ihr fortgeschrittenes Alter stellte für sie eine Belastung dar. Konnte sie diesem Wesen tatsächlich Nährboden für ein gesundes Wachstum sein? Ja, sie konnte! Überglücklich nahm sie dieses Mädchen in Empfang, ein Schreibaby für dreizehn Monate, wie sich wenig später zeigte. So als ob dieses Kind all ihre Ängste und Schmerzen mitgetragen hätte. Doch auch diese Zeit ging vorüber. Nana gab ihrem eigenen Kind all die Liebe, die sie nie erfahren hatte. Sie wuchs zu einem selbstbewussten, offenen und sehr ehrlichen Menschen heran.
 
Mel wurde die Patentante von ihrem Mädchen. Doch Mels Sucht wurde immer stärker, sie dehnte sich auch in andere Bereiche aus. Schweren Herzens musste Nana die Notbremse ziehen, damit sie sich selbst und ihre Familie schützen konnte. Auch ihr Mädchen wurde zunehmend von Mels Sucht indirekt betroffen – Versprechen wurden gebrochen oder nicht eingehalten. Immer wieder versuchte Nana zu erklären, was Menschen dazu veranlasst, Derartiges zu tun. Doch dieses Mädchen hatte bereits in jungen Jahren eine klare Sicht auf Dinge, die Nana sich noch schön zu reden versuchte.
 
Einen Tag vor Weihnachten verlor Nana ihr Hörvermögen. Als ob der Boden unter ihren Füßen sich auflöste, so fühlte sich Nana. Sie wollte nicht mehr leben. Gleichzeitig wusste sie, so tief wird sie nie wieder fallen. Wieder standen Operationen an. Ein Implantat sollte sie vor der totalen Taubheit retten. Wie so oft in ihrem Leben kam auch in dieser Situation ein rettender Engel in Form eines kompetenten Operateurs. Viele Therapien später erkannte Nana, dass sie nicht mehr Opfer der Umstände ist, sondern selbst ihr Leben in die Hand nehmen darf. Sie befasste sich eingehend mit fernöstlichen Weisheiten, suchte ihre eigene Spiritualität. Diese fand sie dort, wo sie sie vor vielen Jahren entdeckte, in ihrem geliebten Wald.
 
Gleichzeitig mit Nanas Heilung begann mehrere hunderte Kilometer entfernt auch die Heilung Mels. Wie durch Zauberhand fand jede der beiden Schwestern ihre ureigene Therapieform. Die Schwestern näherten sich Schritt für Schritt wieder an. Mit jedem Gespräch wuchs das Vertrauen sich der anderen wieder zu öffnen, wieder Glauben zu schenken. Auch Mels inzwischen erwachsene Kinder nahmen wieder zu ihr Kontakt auf und waren sichtlich stolz auf Mels Entwicklung.
 
An einem angenehm warmen Frühlingstag beschlossen die Schwestern ein Treffen zwischen ihren Wohnsitzen. Alle Kinder und Partner waren anwesend. Es war ein Fest, der wohl im Himmel beschlossen und auf Erden gelebt wurde. Es wurde getanzt, gelacht, geweint, gegessen und getrunken bis in die frühen Morgenstunden.
 
In einem ruhigen Augenblick gingen die beiden Schwestern hinaus in die Dunkelheit. Fest umschlungen sahen sie in den Sternenhimmel. Beide dachten an ihre gemeinsame Mutter und dass sie wohl von ihrer Seite her das Nötigste tat, um die beiden wieder zusammenzuführen. Tränen des Glücks liefen über ihre Wangen, bis der Wind die letzte Träne trocknete. Seit diesem Tag sind die ungleichen Schwestern wieder vereint.
 
Bis heute vergeht kein Tag, an dem sich nicht hören. Einmal im Jahr, nach ihren beiden Geburtstagen im März, findet ein Ehrentag statt, an dem sich die gesamte Familie trifft, bis ans Ende ihrer Tage. Und auch die nächste Generation wird diese Tradition fortsetzen als Gedenken an all das, was möglich ist, wenn Menschen sich ihrer Heilung annehmen – wenn sich Menschen der Liebe öffnen.
 
 © Andrea Mayr, 03.01.2022
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