#06 Peppilotti in Südtirol
»Du, Peppilotti, hast du schon einmal etwas über Törggelen gehört?«, fragten Taubsi und Täubchen die weise Eule. »Nein, noch nie. Was ist das?«, antwortete Peppilotti. Die Brieftauben erklärten: »Das ist ein Brauch aus Südtirol. Von Oktober bis Mitte November tischen Buschenschänke Traditionsgerichte auf. Das Törggelen besteht aus mehreren Gängen. Am besten, du verschaffst dir selbst einen Eindruck davon.«
 
»Das klingt interessant und mir läuft das Wasser in meinem Schnabel zusammen, wenn ich an all die Leckereien denke! Glaubt ihr, dass es meinem Magen wohlbekommt? Was, wenn die Südtiroler mich am Gabentisch nicht dabei haben wollen?« Die Brieftauben zerstreuten Peppilottis Gedanken und sagten fröhlich: »Gut, Peppilotti, jetzt suchen wir für dich noch einen schönen Ort aus, an dem du dich wohlfühlen kannst.«
 
Der Atlas wurde ausgebreitet und gemeinsam mit den Waldbewohnern suchte sich Peppilotti eine Gegend aus, die ihr als passend erschien. Die Wahl fiel auf Kaltern an der Weinstraße, mit dem gleichnamigen See. Eifrig studierten die Waldbewohner die Route, um dann festzustellen, dass diese Reise als Tagesausflug geeignet wäre.
 
Bereits am nächsten Tag machte sich Peppilotti auf den Weg nach Kaltern. Sie flog über den Brenner, vorbei an Sterzing – bereits hier stellte sie fest, dass sämtliche Ortsnamen zweisprachig geschrieben standen – weiter über Brixen, Bozen, entlang der Weinstraße nach Klausen, Kastelruth, Girlan und schließlich landete sie in Kaltern. Sie staunte nicht schlecht über die unzähligen Weinberge und Apfelplantagen, die sich ihr zeigten. Ein Blick auf die Kirchenuhr sagte ihr, dass sie knapp zwei Stunden unterwegs gewesen war.
 
In einem Weingarten traf sie einen Mann, der soeben mit einer Schere die restlichen Weintrauben erntete. Sie räusperte sich kurz und stellte sich vor. Der Mann blickte von seiner Arbeit auf und antwortete: »Aus Innschbruck bisch oiso. Hm…, jo wia kimmsch iaz auf de Idee zu ins z’kemma? Mi derfst Carlo nennen.«
Peppilotti erzählte ihm sein Vorhaben und er antwortete: »Na, echt iaz?! Du mechast Törggelen? Zum Kalterer See? Trifft se guat. I hon nämli an Buschenschank dort am See. Frogt se lei, ob dir des a schmecken wird…?«
 
Die Eule schmunzelte, fragte Carlo, ob es möglich wäre, dialektlos zu sprechen. Dieser lachte und lud Peppilotti ein, in seinem Traktor Platz zu nehmen. So fuhr die weise Eule zum allerersten Male in einem Traktor mit – ein Abenteuer für sich. Das Motorengeräusch war ohrenbetäubend, ungeduldige Autofahrer hupten hinter ihnen. Während der Fahrt bemühte sich Carlo nach der Schrift zu sprechen, was einer gewissen Comic nicht entbarg. Er erzählte von seiner Frau Antonia, liebevoll Toni genannt, mit welcher Hingabe sie den kleinen Buschenschank führt. Nicht ohne Stolz verkündete er, dass sie in den letzten Jahren immer häufiger von Touristen aufgesucht wurden. Und das nur über Mundpropaganda. »Das Echte, das Wahrhaftige, zahlt sich auch in diesem Bereich aus!« Peppilotti gab ihm recht.
 
Von weitem rief Carlo seine Frau Toni: »Nicht erschrecken! Heute haben wir eine Eule aus Tirol zu Gast!« Toni faltete ihre Hände und stammelte: »Jesas!« Sie fasste sich sogleich und schloss Peppilotti augenblicklich in ihr Herz. Sie war auch zu süß mit ihrem Tiroler Hut, ihren Wanderschuhen und ihrem Rucksack. Peppilotti ihrerseits war berührt von ihrer herzoffenen Art. Sogleich schnupperte sie unglaubliche Düfte. Sie befand sich im sprichwörtlichen Schlaraffenland. »Komm, setze dich her, bist sicher müde, hungrig und durstig von der langen Reise.« Während Toni Getränke holte, erzählte Carlo von dem Brauch des Törggelen.
 
»Das Törggelen blickt auf eine lange Tradition zurück. Schon früher trafen sich nach dem Weinpressen im Herbst die Bauern und Weinhändler, um den neuen Wein und den ‚Sußer‘ zu verkosten. Auch der Begriff kommt aus dieser Zeit. Nein, ‚Törggelen‘ leitet sich nicht von ‚torkeln nach zu viel Weingenuss‘ ab, wie so mancher vermuten könnte, sondern vom lateinischen Wort ‚torquere‘ – was so viel bedeutet, wie Wein pressen.«
 
Interessiert lauschte Peppilotti den Erzählungen von Carlo, während sie an ihrem Glas »Sußer« nippte. Ein süßer, noch nicht vergorener Traubensaft. Weiters klärte Carlo sie über die Menüfolge auf, so wie sie es seit Generationen handhaben.
»Wir beginnen mit Gerstensuppe, gefolgt von Schlutzkrapfen. Danach gibt es eine Schlachtplatte mit Hauswurst, Rippelen, Surfleisch, G’selchtes und Sauerkraut. Und zum Nachtisch servieren wir süße Krapfen und Keschtn – gebratene Kastanien. Ein Gläschen des Nuien – des jungen Weines, solltest du dir ebenfalls nicht entgehen lassen. Toni wird für dich jeweils nur kleine Portionen anrichten, nicht das du uns noch zerplatzt, vor lauter Völlerei! Wir werden dir eine kleine Kostprobe unserer Musik darbieten, denn Feiern, Lachen und Musizieren gehört für uns ebenfalls zum Genießen dazu.«
 
Peppilotti verdrehte ihre Augen, drehte ihren Hals dreimal um ihre eigene Achse, klatschte in die Hände und antwortete nonchalant: »So lasset das Fressen beginnen!« Sie band sich eine Serviette um und probierte vorsichtig die Gerstensuppe, etwas, was sie noch nie zuvor gegessen hatte. Zwischen den einzelnen Gängen erzählte sie den beiden von ihren Reisen, welch großartige Menschen sie bereits kennengelernt hatte, über das bevorstehende Fest zu Wintersonnenwende und welche Länder sie noch gerne bereisen würde. Kopfschüttelnd und staunend hörten Carlo und Toni ihr zu. Immer wieder riefen sie: »Das gibt’s doch nicht! Wie in einem Science-Fiction Roman! So etwas, hat die Welt noch nicht gesehen und ähnliche Aussprüche.« Peppilotti schmunzelte immer wieder über die beiden und wollte auch gerne mehr über sie erfahren.
 
Toni begann zu erzählen: »Wir beide waren in einem stressigen Beruf. Die Buschenschank, wie du inzwischen weißt, ist sie nur zu bestimmten Zeiten geöffnet, war in der Zeit eine große finanzielle Belastung. Das alte Gemäuer musste grundsaniert werden. Wir wollten eine große Terrasse Richtung See bauen. Diese Genehmigung zu bekommen, dauerte beinahe ein ganzes Jahr. Die italienischen Behörden arbeiten anders als in Österreich«, zwinkerte sie Peppilotti zu.
 
Nach einem Schluck Sußer erzählte sie weiter: »Damals hatten wir einen viel größeren Weinberg. Eine Zeit lang funktionierte alles noch recht gut, auch dank unserer Eltern, die uns damals noch mit ihrer Hilfe unterstützen konnten. Eines Tages saßen Carlo und ich auf der Baustelle unserer Terrasse, sahen den See in allen möglichen Farben funkeln und fragten uns, wie lange wir den physischen und mentalen Belastungen noch standhalten konnten. Und wir fragten uns, ob es das ist, was wir uns vom Leben erwartet hatten.« Carlo erzählte weiter: »Jedenfalls, wir saßen hier, den Blick auf den funkelnden See gerichtet und plötzlich erhielten wir eine Vision. In dieser wurde uns gezeigt, wie wir unser Leben neu gestalten könnten. Wir erkannten, dass Ressourcen nur bedingt vorhanden sind. Uns wurde bewusst, wie sehr wir gegen unsere eigenen Überzeugungen gehandelt hatten. Indem wir dem allgemeinen Trend der damaligen Zeit – Masse, statt Klasse – folgten, wurden wir täglich unzufriedener. Weniger ist mehr, so lautete damals unser Spruch. Wir erkannten unseren Sinnauftrag, so würde ich das aus heutiger Sicht beschreiben.«
 
»Sinnauftrag, welch ein passendes Wort für die heutige Zeit«, antwortete Peppilotti. »Wir verkauften einen Teil des Weinberges und kündigten unsere Jobs. Eine gewagte Entscheidung damals, die wir bis heute nie bereut haben. Auch an Tagen, an denen es finanziell eng wurde, hatten wir das Vertrauen, dass immer für uns gesorgt wird. Unsere Wertschätzung für unser kleines Paradies zog regionale Bauern an, die uns bis heute mit dem versorgen, was wir selbst nicht produzieren«, ergänzte Toni.
 
Berührt von diesem Ehepaar antwortete Peppilotti: »Eure Geschichte hat mich nachdenklich gemacht. Wisst ihr, dass ihr in vielen Bereichen Pioniere seid? Ihr habt den Spagat zwischen Wunsch und Realität mit eurem tiefen Vertrauen geschafft! Das ist etwas, was noch nicht viele Menschen wagen. Zu tief sitzt ihre Versagensangst. Dabei vergessen sie, wie machtvoll sie als geistige Wesen sind. Vielleicht ist es das, wovor die Menschen am meisten Angst haben: Vor ihrer eigenen Macht. Wisst ihr, deshalb liebe ich meine Reisen. Stets treffe ich wundervolle Menschen, mit denen ich mich austauschen und von denen selbst ich etwas lernen darf. Ja, ja, lacht nur. Auch eine Eule darf jeden Tag dazulernen!«
 
Carlo griff zu seinem Hackbrett, stimmte eine Melodie an und Toni sang dazu. Peppilotti erfreute sich am Gesang, schunkelte hin und her und sang das eine oder andere mit. Als Carlo sein Hackbrett weglegte, wollte er von Peppilotti wissen, ob sie ein italienisches Lied kenne. »Ja, sogar einige. Wollen wir zusammen singen? Vielleicht ‚Bella ciao‘, ‚Volare‘ oder kennt ihr ‚Aqua di mare‘, gesungen von der damals blutjungen Romina Power?«
 
Und so sangen sie, tranken das eine oder andere Glas Nuien. Irgendwann ging Peppilotti auf die Terrasse und sah auf den See in seinen funkelnden Farben. Ein Tränchen rann ihr aus ihren wunderschönen grünen Augen. Leise sagte sie zu sich: »Danke, für all diese Augenblicke in meinem Eulen-Leben! Danke, für all die Menschen, die ich treffen darf! Danke, für die Schönheit und Liebe, die mir zuteilwird!«
Bevor sie ihren Heimflug antrat, lud sie das Ehepaar zu ihrem bevorstehenden Fest ein, bedankte sich überschwänglich bei ihnen, ließ sie in ihr Reisetagebuch einschreiben, knipste noch ein Abschlussfoto und hinterließ ihnen eine Feder als Erinnerung.
 
Als sie wieder in ihrem Waldstück angekommen war, wurde sie stürmisch begrüßt. Alle Waldbewohner redeten durcheinander, jeder wollte zuerst wissen, wie es der Eule ergangen war. Bis in die Morgenstunden erzählte Peppilotti von ihrer Reise nach Südtirol. Sie überlegte, ob die Jugendherberge in unmittelbarer Nähe noch Platz bieten würde für einige ihrer Gäste. Denn, so wurde ihr bewusst, das Holzhäuschen war bereits jetzt zu klein für all die Freunde, die kommen sollten…
 
Bis zum nächsten Mal, deine Peppilotti
© Andrea Mayr
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