#02 Peppilotti in Kärnten
An einem verregneten Wochenende machten es sich die Waldbewohner gemütlich unter einem aus dicken Zweigen und Ästen gebauten Tipi. Ein kleines Lagerfeuer brannte in der Mitte und wärmte ihre müden Knochen. Ein frischverliebtes Laubfroschpärchen suchte sich Schutz unter dichtem Laub. Der große Atlas wurde aufgeschlagen und jeder der Waldbewohner durfte sich eine Stadt aussuchen, wohin die nächste Reise Peppilottis gehen sollte. Familie Mistkäfer lief in Oberösterreich umher. Familie Blaumeise in Salzburg. Der Fuchs wollte, dass Peppilotti nach Wien fährt. Die Raben wollten, dass sie nach Kärnten reist. Und die Rehe wollten, dass sie nach Vorarlberg an den schönen Bodensee fliegt.
 
»Jetzt kommt endlich Bewegung in den trägen Tag hinein«, schmunzelte Peppilotti. »So tolle Landschaften, so geschichtsträchtige Orte. Wie soll ich mich da entscheiden können?« Die kleine Maus trippelte langsam vor die Eule und wisperte: »Mein Cousin 3. Grades, du weißt schon, der Weltenbummler, der erzählte unlängst von einem Mann in Kärnten, der wohl weit oben in den Bergen wohnt. Von diesem Mann wird berichtet, dass er, obwohl er alleine lebt, sehr glücklich und zufrieden ist. Wäre das nicht einen Ausflug wert, verehrte Peppilotti?«
 
»Du hast recht, kleine Maus, das klingt tatsächlich spannend. Ein Mann, der mit sich selbst glücklich ist – wo gibt es so etwas heutzutage?  Von ihm könnte selbst ich noch etwas lernen. Kommt, lasst uns sehen, wo genau dieser Mann wohnt«, antwortete Peppilotti.
Schnell wurden sie fündig. Allesamt waren verzaubert von der Tatsache, dass sich unterhalb des Berges ein großer See befindet. »Da könnte ich mir doch eine Bootsfahrt gönnen, sollten sie diese dort anbieten. Das wollte ich immer schon erleben«, rief Peppilotti entzückt.
 
Und weiter: »Ein Tagesausflug wird sich über diese Entfernung wohl nicht ausgehen. Das heißt, ich benötige für ein paar Tage einen Hüter-Stellvertreter. Wer hat noch nicht, wer will noch mal?!« »Ich, ich, nein ich!«, rief es aus allen Ecken. Der Wald schallte von dem Stimmengewirr. »Gemach, gemach. Nicht alle durcheinander. Wir lassen das Los entscheiden. Jeder besorgt sich bitte eine Eichel, schreibt seinen Namen darauf und die klugen Raben werden auslosen. Einverstanden?« Klar, dass alle mit der weisen Entscheidung einverstanden waren. Das Los fiel schließlich auf den mächtigen Hirsch, der diesen Wald notfalls auch verteidigen konnte.
 
Kurze Zeit später packte Peppilotti ihren Rucksack. Diesmal nahm sie noch zusätzlich zu ihrer üblichen Ausrüstung ihren Pyjama, einen Schal – man weiß ja nie, wie das Wetter in den Bergen ist – und ein Regencape mit. Aufgeregt verabschiedete sie sich von ihren Freunden und startete los in Richtung Kärnten. Unterwegs begegnete sie einem ihrer weitschichtigen Verwandten, erzählte ihm über ihre geplante Reise und flog weiter. Immer weiter, weiter, weiter, bis sie erschöpft am Ufer eines Sees landete. Dort legte sie eine ausgedehnte Pause ein. Auf ihrem mitgebrachten Plan sah sie, dass sie beinahe angekommen sein musste. Sie fragte ein Schwanenpaar nach dem Weg und lehnte sich entspannt zurück. Sie konnte verstehen, dass die Menschen diesen See und die Landschaft ringsum liebten. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Hätte ich doch meine Polaroid-Kamera mitgenommen, dann könnte ich meinen Freunden zu Hause dieses Panorama zeigen! Ein Golden Retriever, der auf sie zukam, zeigte ihr einen kleinen Kiosk in der Nähe, wo man Derartiges kaufen konnte. Dankend verabschiedete sich Peppilotti und bevor sie ihre Weiterreise antrat, besorgte sie sich noch eine Kamera und ein Abzeichen für ihren Rucksack.

»Dieser Dialekt gefällt mir«, dachte sie sich. »Lei losn«, hörte sie immer wieder. Was so viel heißt wie, nur laufen lassen – gut sein lassen. Überhaupt fiel ihr auf, dass die Menschen hier freundlicher und lustiger waren, als in Tirol. Jeder schien hier zu singen. Es tönte aus allen Ecken ein mehrstimmiger Chor. »Ach tut das gut, seine Flügel auszubreiten und die Welt entdecken!«, rief sie immer wieder.
Gut gelaunt landete sie auf einem hölzernen Wegweiser. »Zur Wallis-Quelle« war zu lesen. Stolz auf sich, dass sie den richtigen Weg gefunden hatte, setzte sie zu ihrem vorläufig letzten Flug an. Sie rieb sich die Augen, denn noch nie hatte sie derart Idyllisches zu sehen bekommen. Ein kleines, schmuckes Bauernhaus mit Blumen vor dem Fenster, stand auf einer Almwiese. Ein Holzbrunnen, aus dem permanent frisches Wasser floss und die Aussicht erst! Sofort zückte sie ihre Kamera und fotografierte wild darauf los.
 
Aufgeschreckt durch das Geräusch kam ein Mann mit schneeweißen Haaren und ebenso weißen Bart, der ihm bis zu seiner Brust reichte, auf Peppilotti zu. Im Schlepptau hatte er einen Hirtenhund, der aufgeregt bellte. »Na, da legst di nieder und stehst nimma auf! A Eul‘, mit an Tiroler Huat und an Rucksock, na i glab‘ i tram!« Peppilotti, überrumpelt vom Gebell und dem seltsamen Dialekt antwortete: »Verzeihung, der Herr, ich wollte dich nicht erschrecken. Könntest du nach Möglichkeit dialektlos sprechen, sonst verstehe ich nur die Hälfte. Ich glaube, ich bin hier richtig. Bist du der Mann, über den man sich erzählt, dass er glücklich ist, obwohl er alleine lebt? Mein Name ist Peppilotti und ich komme aus dem Tiroler Land.«
 
»Ja, der bin ich. Mein Name ist Johann und das ist mein Gefährte, der Wasti. Ja, in Gottes Namen, wie komme ich zu der Ehre, einen Besuch von einer Eule aus Tirol zu erhalten? Noch dazu in diesem Aufzug. Peppilotti, ein lustiger Name! Komm, flieg rauf in die Hütte, du bist sicher hungrig und durstig von der langen Reise. Der Mann gefiel ihr auf Anhieb. »Tatsächlich, von ihm könnte selbst ich einiges lernen…«, dachte sie sich, bevor sie sich auf der Bank vor dem Haus niederließ. »Warte einen Augenblick, ich hole uns zwei Radler. Trinkst du überhaupt einen Radler? Weißt, das ist bei uns auf der Alm so üblich.« Peppilotti nickte und lachte. Wenig später kam Johann mit den Getränken und einer Brettljause. »Mhm, wie das duftet! Tatsächlich ich könnte einen Bären verspeisen, so hungrig bin ich. Danke für deine Gastfreundschaft, lieber Johann.«
 
Erstaunt sah Peppilotti, dass Johann zwei kleine Schälchen dabeihatte. »Das ist für meine lieben Tierfreunde. Eine Schale mit Zuckerwasser und eine mit gemischten Nüssen. Wir essen stets gemeinsam. Das ist auch ein Grund, warum ich mich nie alleine fühle«, klärte Johann auf.
Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich Bienen, Schmetterlinge und Vögel und labten sich. Während der Mahlzeit, die übrigens hervorragend schmeckte, erfuhr Peppilotti so Manches aus dem Leben von Johann. Zum Beispiel, dass er vor vielen Jahren seine Frau Walli verloren hatte. Wie er anfangs nicht wusste, wie er jemals ohne sie weiterleben könnte. Von den Tieren, die ihm immer Trost und Abwechslung spendeten und von seinem tiefen Glauben.
 
»Jeden Morgen, nach dem Frühstück, wandere ich zur Wallis-Quelle. Dort ist ein Marterl für meine Frau angebracht. Weißt du, was ein Marterl ist, Peppilotti?« Die Eule nickte. »Dort spreche ich mit meiner Walli und mit Gott. Und sie sprechen zu mir. Du wirst mich jetzt für verrückt halten, aber genauso ist es. Anfangs, das sage ich dir, da war mir Angst und Bang. Ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Doch mit der Zeit vertraute ich den Stimmen, die ich wahrnahm. Und Nach und Nach konnte ich die Sprache der Tiere verstehen und sogar die Wasserwesen in der Quelle. Hast du gewusst, dass jedes Wasser seine eigenen Wassergeister beherbergt?« Wiederum nickte Peppilotti. Sie hörte sehr aufmerksam zu. Mit jedem Wort, dass sie aus Johanns Mund vernahm, wurde sie neugieriger.
»Wasti ist mir ein treuer Gefährte, er begleitet mich, wohin ich auch gehe. Im Sommer verirren sich manchmal einige Touristen zu mir, das ist mir eine schöne Abwechslung. Sie erzählen mir den neuesten Klatsch und Tratsch der Welt und dann denke ich mir immer: Danke, dass ich so weit weg bin von all dem Unnatürlichen, von all dem, was die Menschen krank macht!«
 
Peppilotti schluckte soeben ihr letztes Stück von dem Kärntner Hauswürstel, als sie sich gewahr wurde, dass sie noch keinen Schlafplatz für heute Abend hatte. »Sag Johann, hättest du eine kleine Ecke für mich, wo ich mich heute Nacht ausstrecken könnte. Der Wald ist mir fremd – ich weiß nicht, ob die Waldbewohner mich hier dulden. Du weißt ja, jeder Wald hat seine eigenen Gesetze…« Da lachte Johann aus voller Kehle und antwortete: »Na, du bist mir vielleicht eine lustige Eule! Ich kann dir versichern, wir Kärntner sind zu jedem gastfreundlich. Aber ja, du kannst wählen, ob du lieber bei mir im Häuschen oder im Wald übernachten möchtest.«
 
Die Eule bedankte sich bei Johann und entschwand für kurze Zeit in den nahe gelegenen Wald. Sofort wurde sie stürmisch begrüßt. Und gleich, wie in ihrem Waldstück, riefen die Waldbewohner alle zugleich. Ein Schnattern, ein Schnäbeln, ein Zischen und Röhren – welch eine Musik in Peppilottis Ohren! Die Hüterin des Waldes ermahnte die anderen still zu sein und begrüßte Peppilotti. »Welch eine Ehre, einen weitgereisten Gast in unserem heiligen Wald begrüßen zu dürfen. Ich bin Jolanda, die Hüterin und du heißt Peppilotti, wir hörten bereits von dir. Sag, ist es nicht unbequem mit Rucksack, Wanderschuhen und Tiroler Hut zu fliegen? Hast du dir schon einen Schlafplatz gefunden? Wir würden uns freuen, dich beherbergen zu dürfen!«
 
»Wenn es euch keine Umstände bereitet, gerne«, antwortete Peppilotti. »Johann würde mir auch ein Plätzchen zur Verfügung stellen, doch ehrlich gesagt, mit euch würde ich mich gerne austauschen.« Und so blieb Peppilotti und hörte weitere Geschichten über Johann und über seinen Alltag. Immer erstaunter wurde sie, als ihr die Hüterin erzählte, dass es keinen einzigen Tag gegeben hatte, an dem Johann nicht glücklich und zufrieden mit sich selbst war. Das war etwas, worüber sie unbedingt mehr erfahren wollte.  
 
Die Hüterin erzählte: »Nach dem Morgengebet fühlt er sich in das Wettergeschehen ein. Dazu beobachtet er die Wolken, den Wind und den Sonnenstand. Erst dann entscheidet er, was er zu tun gedenkt. Er ist ein freier Mann und niemandem Rechenschaft schuldig. Das ist eines seiner großen Geheimnisse, warum er so glücklich und zufrieden ist. Er nimmt jeden Moment so an, wie er sich ihm anbietet. Nicht mehr, nicht weniger. Und er genießt sein Leben. An vielen Abenden hören wir seine Ziehharmonika und seinen Gesang dazu. Er benötigt weder Fernsehen, noch Radio, um glücklich zu sein. Noch nie haben wir ihn klagen gehört. Immerhin ist er in einem fortgeschrittenen Alter, da zwickt und zwackt es schon mal. Wenn die Schmerzen gar wild sind, ruft er seine Freunde, die Murmeltiere. Sie rupfen einige Kräuter und legen sich mit diesen zu ihm ins Bett. Am nächsten Tag ist der Spuk meistens vorbei. Ja, ja, der Johann, er ist ein wahrer Segen für uns alle.«
 
Am nächsten Tag verabschiedete sich Peppilotti von den Waldbewohnern, die ihr noch eine kleine Notiz in ihrem Reisetagebuch hinterließen. Dann kam auch der Moment, wo sie Johann »Servus« sagen musste. Sie umschlang ihn mit ihren Flügeln, rieb ihren Schnabel an seinem weißen Bart, ließ ihn ebenfalls eine Notiz in ihr Reisetagebuch schreiben, übergab ihm noch eine Feder und verdrückte zum Abschied eine kleine Träne.
Am liebsten hätte sie diesen wunderbaren Menschen mit in ihre Heimat genommen, wohlwissend, dass dies nicht möglich war. Und da kam ihr ein Gedanke, den sie mit ihren Freunden besprechen wollte….
Ihr Heimflug gestaltete sich ohne Hindernisse. Am übernächsten Tag kam sie wohlbehalten in ihrem Waldstück an, wo sie bereits sehnsüchtigst erwartet wurde.
 
Wohin wird die nächste Reise gehen? Demnächst mehr…
 
Bis bald, deine Peppilotti
 
 © Andrea Mayr, Juni 2022


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