#10 Peppilotti in Venedig
Interessiert hörte Peppilotti dem Gespräch der Waldbewohner zu. Sie unterhielten sich über eine mögliche Reise. »Nein, das passt nicht zu unserer Waldhüterin!«, empörte sich das Eichhörnchen. »Das ist viel zu weit!«, ergänzte der Hirsch. »Wie wäre es mit dem Karneval in Venedig?«, fragte Xaver beiläufig in die Runde.
 
Peppilotti trat näher und sagte mehr zu sich selbst: »Klingt interessant…« »Aber, das geht doch nicht, Peppilotti spricht gar kein Italienisch!«, antworteten die Kohlmeisen aufgeregt. »Es gibt eine universelle Sprache – die Sprache des Herzens«, antworteten die Raben. Es klang wie ein himmlischer Chor.
 
»Meine lieben Freunde, ich danke für eure Anregungen. Bitte bringt mir mehr Informationen über den Karneval in Venedig. Welches Kostüm würde zu mir passen? Würdet ihr, Taubsi und Täubchen mich begleiten wollen? Denn ich weiß, dass sich eure Artgenossen auf dem Markusplatz tummeln…« »Das machen wir gerne, nicht wahr Täubchen? Und über ein Kostüm würde ich mir keine Gedanken machen – eine Eule mit Tiroler Hut, Wanderschuhen und Rucksack ist Verkleidung genug«, schmunzelte Taubsi.
 
Im schönsten Morgenrot begaben sich Peppilotti und die Brieftauben auf den Weg in Richtung Venedig. Eine kurze Rast legten sie bei Toni und Carlo am Kalterer See ein. So erfuhren sie, dass sie unterwegs zum »Carnevale di Venezia« waren. Peppilotti zückte ihr kleines Übersetzungsbüchlein und sagte erstaunt: »Carne bedeutet Fleisch und Vale so etwas wie Wert. Also kann man sagen ‚fleischwert‘«. Woraufhin alle herzhaft lachen mussten.
 
Bereits beim Anflug über den Canale Grande sahen sie eine dichtgetränkte Menschenmasse mehr stehend als gehend. Schrill, bunt, laut, so könnte man dieses Spektakel kurz zusammenfassen. Kaum ein Plätzchen frei an dem berühmten Markusplatz. Doch hier zeigte sich das große Kostümfest in all seiner Pracht. Neben historischen Kostümen und den dazugehörenden Masken, fiel Peppilotti sofort die Verschmelzung der jeweiligen Figuren mit ihren Protagonisten auf. Manche verharrten stundenlang in ihrer Pose, andere zogen Schaulustige mit ihrer Gestik an. Peppilotti konnte sich kaum von dem Anblick der vielen bunten, teils mit Federn und Edelsteinen verzierten Masken lösen.
 
Bei einem Paar blieb sie fasziniert stehen. Sie verkörperten Sonne und Mond und wogen sich in einem bestimmten Rhythmus hin und her. Sie umarmten sich und ließen wieder voneinander. Sie bewegten sich in die gleiche Richtung, dann wieder in die entgegengesetzte. Und obwohl dieses Paar keinen Ton von sich gab, berührte Peppilotti dieses Schauspiel.
 
Ein paar Schritte weiter durfte die weise Eule einem weiteren Spektakel beiwohnen. Alle Augen waren auf den Glockenturm gerichtet, den »Campanile di San Marco«. Mit Spannung erwarteten die Besucher den Engelsflug, den »Volo dell’Angelo«. Unter tosendem Applaus schwebte eine Artistin mithilfe eines Seils von dem Glockenturm auf den Markusplatz. Immerhin beachtliche 99 Meter Höhenunterschied. Peppilotti ließ sich von der Stimmung mitreisen. Das gefiel der abenteuerlustigen Eule.
 
Auf der Suche nach Taubsi und Täubchen, die sich mit den berühmten Tauben des Markusplatzes verabredet hatten, stellte sich Peppilotti auf ein gemauertes Podest. Hier entdeckte sie viele weitere Figuren und musste bei manchen schmunzeln. Langsam realisierte sie, dass sie jemand fotografierte und ansprach: »Scusa, dove si può trovare un costume del genere? Un gufo con capello tirolese, scarponi da montagna e zaino! Sto impazzendo!«
(Entschuldige, wo findet man so ein Kostüm? Eine Eule mit Tiroler Hut, Wanderschuhen und Rucksack! Ich werde verrückt!)
 
Peppilotti drehte ihren Kopf dreimal um die Achse, fischte sich ihr Übersetzungsbüchlein heraus und stotterte: »Sono un gufo delle montagne tirolesi. È così, che viaggio sempre. Mi chiamo Peppilotti.«
(Ich bin eine Eule aus den Tiroler Bergen. So reise ich immer. Ich heiße Peppilotti.)
Woraufhin der Angesprochene sich als bayrisches Unikat mit gezwiebelten Schnauzbart zu erkennen gab und antwortete: »Na, des gibt’s jo net. A Tirola und a Boar mitten am Markusplotz. Un i hob scho gmoant, des war a Kostüm. Hahaha. Jo, do legst di nieda und stehst nimma auf, gell.«
 
Erleichtert fiel Peppilotti in das Gelächter von Rupert, wie der lustige Bayer sich nannte, ein.
Die Eule erzählte von ihren Reisen und den lieben Menschen, denen sie bisher begegnen durfte, von ihrem Waldstück und ihren Bewohnern und davon, dass sie mit Täubchen und Taubsi zum ersten Mal in Venedig sind. »Sag, lieber Rupert, wie kommt’s, dass du so gut italienisch sprichst?«, fragte Peppilotti.
 
»Das ist eine lange Geschichte. Die Kurzfassung: Meine damalige Frau und ich trennten uns. Ich war ein angesehener Bierbrauer und musste ihr viel Unterhalt zahlen. Ich tat zu viel von allem. Zu viel Arbeit, zu viel Alkohol, zu viele Zigaretten, zu fettes Essen. Und viel zu wenig für mich. Kurz und gut, ich wurde sehr krank und hatte zum ersten Mal die Gelegenheit über mein Leben nachzudenken. Einerseits schmerzhaft, anderseits ein Geschenk, wenn du weißt, was ich meine…« Peppilotti nickte.
 
»Eines Tages verkaufte ich meine Brauerei, wobei ich den Löwenanteil meiner Exfrau geben musste, verkaufte meine Wohnung, packte einen Koffer und fuhr Richtung Süden. In Lignano wollte ich ein paar Tage am Meer verbringen und blieb bis heute. Durch einen glücklichen Zufall lernte ich ein Ehepaar kennen, das damals dringend einen Nachfolger für ihre kleine Pension suchte. Nach einer kurzen Denkpause sprang ich buchstäblich ins kalte Wasser und habe es bis heute nicht bereut. In den Wintermonaten bin ich viel unterwegs und heute hat es mich nach Venedig verschlagen, um dich kennenzulernen, liebe Peppilotti.«
 
Fasziniert hörte Peppilotti zu und antwortete: »Ja, manchmal nimmt uns das Leben streng an die Hand, doch nie ohne etwas viel Besseres in petto zu haben, nicht wahr? Was für eine Geschichte! Ich danke dir, lieber Rupert, für deine Offenheit. Möchtest du meine Brieftauben kennenlernen und dann könnten wir gemeinsam fein dinieren. Du musst wissen, ich bin eine Genuss-Eule… Und noch etwas: Einmal, bitte nur einmal, darf ich an deinem Zwiebelbart zupfen?« Rupert lachte und ließ die Eule gewähren.
 
In einer kleinen Trattoria nahe dem Gemüse- und Obstmarkt, saßen Peppilotti, Rupert, Taubsi und Täubchen und erzählten sich gegenseitig ihre neuesten Geschichten. Alle aßen Spaghetti al ragù, was für ausgelassene Stimmung sorgte. Denn jedem hang eine lange Nudel aus ihrem Schnabel oder Mund. Dieser Anblick verbarg seine Komik nicht. Und die Venezianer? Die schüttelten nicht mal ihre Köpfe ob dieses Bildes. Warum sich nicht einmal als Eule mit Tiroler Hut und Wanderschuhen verkleiden, abseits der opulenten Kostüme, abseits des Trubels? Bestimmt waren hier irgendwelche Touristen die ihren eigenen Karneval feierten…Sicuramente (ganz sicher)
 
Bis zum nächsten Mal, deine Peppilotti
 
©Andrea Mayr, Februar 2023
Datenschutzeinstellungen
Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell, während andere uns helfen, diese Website und Ihre Erfahrung zu verbessern.
Datenschutzeinstellungen
Hier finden Sie eine Übersicht über alle verwendeten Cookies. Sie können Ihre Einwilligung zu ganzen Kategorien geben oder sich weitere Informationen anzeigen lassen und so nur bestimmte Cookies auswählen.
Zurück
Unbedingt erforderlich (1)
Diese Cookies ermöglichen grundlegende Funktionen und sind für die einwandfreie Funktion der Website erforderlich.
Cookie-Informationen anzeigen
Datenschutzeinstellungen
Speichert die Auswahl der Datenschutzeinstellungen.
Leistung (1)
Diese Cookies dienen zur Statistik. Informationen werden anonym erfasst. Diese Informationen helfen uns zu verstehen, wie unsere Besucher unsere Website nutzen.
Cookie-Informationen anzeigen
Matomo
Diese Cookies werden vom Website-Betreiber für Website-Analysen gesetzt. Es wird eine anonyme, statistische Auswertung darüber gemacht, wie die Website genutzt wird. Diese Informationen hat ausschließlich der Website Betreiber.